Hennebique-Bauweise in Mitteldeutschland

Einer der Pioniere auf dem Gebiet des Stahlbetonbaues war der Franzose François Hennebique (1842 - 1921). Er entdeckte, dass sich nicht nur einzelne Bauteile, wie Decken, Wände oder Balken getrennt aus Eisenbeton herstellen lassen, sondern dass man verschiedene Bauteile als Verbundkonstruktion errichten konnte. Hennebique meldete 1897 sein System als Patent beim Kaiserlichen Patentamt an.

Patent von 1897 für Decken mit eisenarmierten Betonbalken

Patent von 1897 für Decken mit eisenarmierten Betonbalken

Im Deutschen Reich gab es zahlreiche Lizenznehmer. Darunter waren Eduard Züblin in Elsass-Loth­rin­gen und Max Pommer in Mitteldeutschland. Diese Bauunternehmen schu­fen eine große Anzahl von unter­schied­lichen Gebäuden in ganz Deutschland. Nach Knauff wurden in Europa bis 1910 mit der Hennebique-Bau­weise über 23.000 Bauwerke er­rich­tet. Zum Beispiel wurde in Frank­reich und in der Schweiz die Henne­bique-Bauweise bis 1900 vielfach angewendet. Die Ausarbeitung der Projekte erfolgte anfänglich im Inge­ni­eur­büro in Paris. Auch der Standsicherheitsnachweis wurde in der Zentrale von Hennebique erarbeitet. In dieser Zentrale wurden auch die Ingenieure für die Hennebique-Bauweise ausgebildet. Das Eigengewicht von Hennebiquedecken wird von Bazali in seinem Fachbuch "Zahlbeispiele zur statischen Berechnung von Eisenbetonkonstruktionen" von 1909 mit 350 bis 450 kg/m² (3,5 bis 4,5 KN/m²) angegeben.

Bis zum Jahre 1907 waren im Deutschen Reich keine ver­bind­lichen gesetzlichen Vorschriften und Reglungen für Stahl­betonkonstruktionen erlassen worden. Meist mussten die Lizenznehmer der Hennebique-Bauweise der örtlichen Bau­polizei individuell die Standsicherheit von Eisen­beton­konstruktionen, zum Beispiel durch Be­lastungsproben - die Tragfähigkeit, nachweisen. Oft haben die ein­zel­nen Kommunen spezielle bau­poli­zei­liche Bestimmungen für Eisenbetonkonstruktionen erlassen.

Konstruktion

Seit 1898 wurde die Hennebique-Bauweise in Deutschland angewendet. Ihr großer Vorteil bestand in einer großen Tragfähigkeit bei Spannweiten bis zu 16 Metern und einer "unbedingten Feuersicherheit". Ein wei­terer Aspekt war, dass man die Gebäude unabhängig von Stahlträgern und Stahlstützen errichten konnte.

Beim Hennebique-System wurden die Deckenkonstruktion und die Stützen durch Rundeisen und Flachbügel miteinander verbunden. Die Bewehrung ordnete man nach der künftigen Nutzung an. Die Träger errichtet man nach dem Prinzip des Hänge- und Sprengewerkes errichtet. Die Bewehrung reichte von den unteren Teilen der Balken bis in die Deckenplatten hinein. Von der Mitte zu den Auflagern hin wurden die Rundeisen nach den statischen Berechnungen mit geringeren Abständen eingelegt. Die Anzahl der Eisenstäbe konnte bei Balken angepasst werden. In Deckenplatten wurde ebenfalls die Bewehrung nach den Vorgaben des Trag­sicherheitsnachweises angeordnet. Bei Stützen wurden je nach Belastung vier oder mehrere Rund­eisen­stäbe eingebaut. Als Abstandshalter dienten gelochte Entfernungsbleche. Zur Verringerung der Stüt­zen­quer­schnitte waren Verkröpfungen vorgesehen. Die Verankerung im Mauerwerk erfolgte durch schwal­benschwanzförmige Auflager.

Schnitte Deckenplatten

Schnitte Deckenplatten

Detail Stützenanschluss

Detail Stützenanschluss

Neben Decken, Trägern und Stützen wurden noch zahlreiche andere Bauteile mit dem Hennebique System errichtet, wie zum Beispiel Flachdächer, Treppen oder Fundamente. Bei diesen Bauteilen wurde die Be­weh­rung den Erfordernissen der zukünftigen Nutzung jeweils angepasst. Eine ausführliche Beschreibung der statischen Berechnung von Hennebique-Konstruktionen ist bei Christophe, P., "Der Eisenbeton und seine Anwendung im Bauwesen" zu finden.

Lizenznehmer für Mitteldeutschland - Max Pommer

Der Leipziger Architekt und Königlich-Sächsische Baurat Max Pommer (1847-1915) erwarb 1898 die Lizenz für die Ausführungen von Hennebique-Konstruktionen in Sachsen. Sein Verdienst war es, als einer der Er­sten in Deutschland ein ganzes Industriegebäude aus Stahlbeton in der Verbundbauweise nach Henne­bi­que zu errichten. Als Max Pommer den Auftrag des Druckereibesitzers C. G. Röder für die Errichtung eines neu­en Druckereigebäudes erhielt, schlug er die neue Stahlbetonbauweise vor. C. G. Röder stimmte dem Vor­schlag zu und so entstand einer der ersten Industriebauten in Deutschland nach dem Hennebique-System.

Deckenplatte

Deckenplatte

Detail

Stützen im Kellerbreich

Vor Beginn der Ausführungsarbeiten musste Max Pommer mit Bruchversuchen von Balken- und Decken­ele­menten im Beisein von Mitarbeitern der Baupolizeibehörde Leipzigs die Standsicherheit der Hennbique­bau­weise nachweisen. Außerdem fand in diesem Zusammenhang auch eine sogenannte Brandprobe statt, bei der das Verhalten im Brandfall beurteilt wurde. Beide Versuche wurden seitens der Baupolizei positiv ge­wer­tet.
Da zu diesem Zeitpunkt keine allgemeingültigen Normen und Regeln für Stahlbetonkonstruktionen den Ge­nehmigungsbehörden vorlagen, werden in anderen Kommunen die Baubehörden ähnlich verfahren haben.

Schon 1899 erbaute Pommer das erste Wohn- und Geschäftshaus in der neuen Bauweise in der Leipziger Innenstadt. Dieses Gebäude wurde 1994 saniert und wird heute wieder unterschiedlich genutzt. Nach dem Bau der Notendruckerei C. G. Röder und dem Geschäftshaus Gruner in Leipzig folgten noch zahlreiche zum Teil bedeutende Bauwerke, wie zum Beispiel der Leipziger Hauptbahnhof 1913 und der Bismarkturm in Leip­zig-Lützschena 1914/15.

abgeplatzte Betondeckung am Zwischenpodest

abgeplatzte Betondeckung am Zwischenpodest

offenliegende Bewehrungsstäbe

offenliegende Bewehrungsstäbe

Seinen Sohn schickte Max Pommer zu einem Studienaufenthalt nach Frankreich in das Büro von Henne­bi­que. Max Pommer junior machte zahlreiche handschriftliche Aufzeichnungen zur Hennbique-Bauweise.

Ausgewählte Bauwerke

  • Druckerei C. G. Röder-Leipzig 1898
  • Wohn- und Geschäftsgebäude Grunert -Leipzig 1899
  • Druckerei Brandstetter - Leipzig 1906
  • Neue Leipziger Bauwollspinnerei- Leipzig 1906
  • Querbahnsteig Hauptbahnhof Chemnitz 1908
  • Oelsners Hof- Leipzig 1908
  • Bismarkturm Leipzig-Lützschena 1914/15
  • Hotel Astoria - Leipzig 1914/15
Druckerei C. G. Röder-Leipzig

Druckerei C. G. Röder-Leipzig

Hotel Astoria

Hotel Astoria

In der Anfangszeit stand Max Pommer in engem Erfahrungsaustausch mit dem Ingenieur Eduard Ast, einem Bauunternehmer aus Wien. Ast hatte ebenfalls eine Lizenz für die Hennebique-Bauweise und führte in Öster­reich zahlreiche Belastungsversuche durch. Die Ergebnisse wurden durch Prof. J. E. Brick in der All­ge­mei­nen Bauzeitung von Österreich 1901 veröffentlicht.
Max Pommer veröffentlichte neben seiner Unternehmertätigkeit zum Beispiel im Centralblatt für Bauwesen einige Artikel über seine Erfahrungen mit dieser Bauweise. Er ist somit einer der Pioniere für das industrielle Bauen der Stahlbetonkonstruktionen in Mitteldeutschland.

Lutz Reinboth hat "Vorschriften für die Statischen Berechnungen und Ausführungen der Hennebique-Kon­struk­tionen" für den Neubau der C. G. Röderdruckerei von 1898 transkribiert. In dieser Vorschrift wurden die von der Leipziger Baupolizei geforderten Baustoffkennwerte beschrieben.

Für weitergehende Informationen steht Ihnen Herr Reinboth gern zur Verfügung.

Ausgewählte Literatur

Beiträge in Fachzeitschriften:

  • Zentralblatt der Bauverwaltung, Jg. 1900
  • Allgemeine Bauzeitung, Jg. 1901
  • Armierter Beton: Monatsschrift für Theorie und Praxis des gesamten Betonbaues, Jg. 1911, Jg. 1912, Jg. 1914

Fachbücher:

  • Christophe, P., Der Eisenbeton und seine Anwendung im Bauwesen, Verlag Tonindustrie-Zeitung, Berlin, 1905
  • Kolbe, E., Die wichtigsten Decken und Wände der Gegenwart, Buchdruckerei Richard Kühne Nachf., Oberhausen Rheinland, 1905
  • Handbuch für Eisenbetonbau, Hrg. F. v. Emperger, 4.Bd., 1. Teil, Salinger, R., Knapp, W. u.a., Die Sicher­heit gegen Feuer, Blitz und Rost, innerer Ausbau, Treppen, Kragbauten, Dachbauten, Kuppelgewölbe, Verlag Ernst & Sohn, Berlin, 1909
  • Adam, T., Die Anfänge industriellen Bauens in Sachsen, Quadrat Verlag i. Gr., Leipzig, 1998

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